"Im Kontext der wechselseitigen Bewertung in unserem System enger sozialer Vernetzung, ist der drohende Verlust der Anerkennung und die Selbstbewertung mit den Augen der anderen zu einem der stärksten sozialen Stressoren geworden. Diese Zusammenhänge erklären auch warum wir so empfindlich auf mangelnde Wertschätzung reagieren." (Hans Peter Unger, 2008, S.76).
Kristin Neff, amerikanische Psychologieprofessorin und Pionierin in der Forschung zum Thema Selbstmitgefühl schreibt in ihrem 2012 erschienenen Buch "Selbstmitgefühl", dass wir uns in unserer Gesellschaft, als "ganz besonders und herausragend" empfinden müssen, um uns selbst als wertvoll betrachten zu können.
Was hinter den Superlativen zurückbliebe, hätte den "fahlen Geschmack des Versagens" (siehe S.13).
Um uns selbst positiv sehen zu können, blähten wir unser Ego auf und sehen auf andere herab, damit wir uns im Vergleich zu ihnen besser fühlen können. Kristin Neff stellt die Frage wie ehrlich wir mit uns selbst sein können, wenn wir das Gefühl haben "müssen" besser als der Andere zu sein, um uns selbst wohlfühlen zu können?
In diesem Kontext führt Kristin Neff interessante Forschungsergebnisse an:
Eine Stude ergab, dass von den Fakultätsmitgliedern eines Colleges sich 94 % für bessere Lehrer bzw. Dozenten hielten als ihr Kollegen (siehe S. 35).
85% aller Studenten meinen sie kämen überdurchschnittlich gut mit anderen Menschen zurecht.
90 % aller Autofahrer meinen sie fahren besser als andere.
Desweiteren zeigen eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, dass Menschen ganz allgemein glauben sie seien witziger, redegewandter, beliebter, attraktiver, klüger, netter, vertrauenswürdiger als andere.
Nichtsdestotrotz glaubten die Menschen, dass ihr Selbstbild ein überdurschnittlich objektives sei.
"Durchschnitt zu sein ist in unserer Gesellschaft nicht akzeptabel, und so hat fast jeder eine rosarote Brille auf der Nase, zumindest beim Blick in den Spiegel" (siehe Selbstmitgefühl, 2012, S.35).
Nicht immer gelänge es jedoch die Fehler erfolgreich bei anderen zu suchen und dann gingen wir "unglaublich hart mit uns selbst ins Gericht". Wir redeten uns dann ein welch ein Versager, wie wertlos und minderwertig wir doch seien.
Reinhard Haller, Psychiater und Psychotherapeut, setzt in seinem Buch "Die Narzismusfalle", 2013, die Bildung einer eigenständigen Persönlichkeit mit der Entwicklung eines "gesunden" Selbswertes gleich.
Er meint, dass unser Denken und Empfinden ständig um Wichtigkeit und Wert der eigenen Person kreist.
"Ob wir es akzeptieren wollen oder nicht: Das Ringen um den Selbstwert entspricht dem Lebenskampf unserer Psyche. Um den Eigenwert drehen sich Fühlen, Denken, Streben und Hoffen vom ersten bis zum letzten Atemzug". (Haller, 2013, S.64)
Auf Beeinträchtigungen unseres Selbstwertes würden wir laut Haller "äußerst sensibel reagieren". Ebenso hätten wir ein überaus feines Gefühl für das Selbstwertgefühl von anderen Menschen.
Es interessiere uns, so Haller, nichts mehr als die Meinung von anderen Menschen über unsere Person und unseren Wert: "Wovor haben wir mehr Angst als vor Kritik, Missachtung, Kränkung und dem Gefühl nichts zu gelten und keinen Wert zu haben? "(ebd. S. 64)
Auch Scott Stossel, 2015, schreibt in seinem umfangreichen und gut recherchiertem Buch über Angst, dass die Gefährdung des Selbstwertes für den Menschen einen enormen inneren Aufruhr und Schmerz bedeutet.
Die Bedrohung des eigenen Selbstwertgefühls würde der Mensch oft mehr fürchten als eine Gefahr für die eigene körperliche Gesundheit. Stossel vermutet, dass zwanghaftes Grübeln oder sogar Panikattaken "nur" Mechanismen der Psyche seien um eine Gefährdung der Integrität oder des Selbstwertgefühls, zu bewältigen.
Auch Sulvian ein bekannter Psychiater des 20. Jahrhunderts erklärt das Entstehen von Angst, ganz allgemein, in der empfundenen Gefährdung des eigenen Selbstwertes.
Ebenso definierte Robert Jay Lifton, ein einflußreicher Psychiater des 20. Jahrhunderts das Phänomen Angst als eine "ungute Vorahnung, die von einer Gefahr für die Lebenskraft des Selbst herrührt..". (Scott Stossel, "Angst", S. 50)
"Wir verzerren unsere Wahrnehmung um unser Selbstbild nicht zu gefährden oder um es aufzupolieren. Wenn wir jedoch hinter unseren eigenen Idealen zurückbleiben, reagieren wir gnadenlos uns selbst gegenüber", meint Kristin Neff.
Und sie fragt sich warum wir ständig zwischen eigennützigen Verzerrungen und gnadenloser Selbstkritik schwanken. Sie sieht die Antwort in unserem Bedürfnis uns sicher fühlen zu wollen. Eine direkte Konsequenz unseres Überlebensinstinktes: „..um uns die Akzeptanz innerhalb einer größeren sozialen Gruppe zu sichern" Neff, 2012, S. 40.
Wir betrachten uns selbst nicht nur als besser, sondern andere auch für schlechter, so Neff.
Sehen wir andere in einem schlechterem Licht, so können wir uns Ihnen gegenüber überlegen fühlen. Die Psychologie bezeichnet dies als „abwärtsgerichteten Vergleich“. „Wenn ich versuche mein eigenes Ego zu polieren, können sie sicher sein, dass ich ihres mattieren werde“, so Kristin Neff.
Keith Johnstone, Dramaturg, hat hierzu den Begriff der „Statuswippe“ geprägt. Diese meint, dass ein Machtgewinn der einen Person automatisch den Machtverlust der anderen Person mit einschließt. “Ich gehe rauf und du gehst runter“.
Auch Burkardt Düssler, Facharzt für Psychotherapie, sieht in dem oft gnadenlosen Umgang mit uns selbst in erster Linie die Absicht die Gefahr einer Ablehnung durch unsere Mitmenschen zu vermeiden.
Wir brauchen die positive Zuwendung unserer Mitmenschen um unser Selbstwertgefühl zu erhalten oder aufzubauen. Dies sei für jeden Menschen von „entscheidender Bedeutung“ so B. Düsseler.
Der Begründer der Kognitiven Psychologie Aaron Beck betrachtet einen beschädigten Selbstwert als Grundlage vieler psychischer Störungen, wie etwa Depressionen. Die „Mutter der Familientherapie“ Virgina Satir sieht im Selbstwert einer Person gar „den Schlüssel aller Phänomene unseres geistigen und sozialen Lebens“ (zitiert nach B. Düssler, 2018, S. 83).
Die Frage unseres Wertes bewegt uns ständig und muß immer wieder neu geklärt werden.
Unser „Wert“ steigt, wenn uns Anerkennung und Wertschätzung entgegengebracht wird und sinkt sobald diese ausbleibt oder wir sogar gegenteilige Reaktionen unserer Mitmenschen erleben, z.B. Kritik oder Zurückweisung.
B. Düssler schreibt: „Selbst Menschen, die normalerweise ein gutes Selbstwertgefühl haben, kennen vorübergehende Minderwertigkeitsgefühle, wenn sie kritisiert oder abgewertet werden oder sich als schwach erleben. Nah verwandt ist die Vorstellung, dass die eigene Ehre oder das Ansehen beschädigt wurde" (bzw. überhaupt beschädigt werden kann) - wie sie täglich in patriachalen Familienstrukturen unhinterfragt gelebt werden, im Extrem dann durch eine vermeintliche Wiederherstellung von der „Familienehre“ durch Tötung eines Familienmitgliedes, welches diese Ehre angeblich besudelt hat.
Die Wiederherstellung von „Ehre“ und „Ansehen“ ist auf deutschen Schulhöfen, in Gefängnissen, Streetgangs ständig Thema, natürlich auch um den eigenen Platz in der Rangordnung nicht zu gefährden.
Jedoch sind wir schon gut damit beschäftigt laufend zwischen den Polen „Ich bin wertvoll“ und „Ich bin weniger wert“ hin und her zu pendeln, (nach B. Düssler).
Erlangen wir nicht genügend Anerkennung schlägt sich dies sofort in unserem Selbstwertgefühl nieder. Auch auf der Handlungsebene sind wir im Zugzwang die Leistung zu zeigen die wir in den Augen Anderer und unseren eigenen erbringen müssten, um wertvoll und anerkannt zu sein:
"Wenn du das nicht schaffst bist du ein Versager", "Wenn Du einen Fehler machst denken die anderen Du bist ein Idiot" oder "Wer Schwäche zeigt wird fertig gemacht" reden wir uns laut Düssler dann häufig ein.
Durch Attraktivität, Besitz, Job, insbesondere auch Soziale Kompentenzen, wie selbstbewußtes Auftreten, Redegewandheit, Beliebtheit usw. stabilisieren oder steigern wir unseren Selbstwert.
B. Düssler fragt sich, was passiert wenn wir ein schlechtes Selbstwertgefühl haben:
"Je geringer es ist, desto trister wird unser Leben. Irgendwann können uns dann Dinge, die wir in guten Zeiten genossen haben, kaum noch berühren und erfüllen: ein Lächeln, schöne Musik...all das scheint nicht mehr zu passen. Kränkungen und Abwertungen wiegen doppelt schwer, solange unser Erleben durch den tiefen Schmerz des Selbstzweifels geprägt ist."
Positive Rückmeldungen greifen dann nicht mehr wirklich, wenn das Gefühl eigener Minderwertigkeit zu stark geworden ist. "Die Botschaft minderwertig zu sein, ist somit einer der schmerzvollsten Stacheln, die sich in unsere Seele bohren können. (...) er muß dem Betroffenen nicht einmal bewußt sein. Trotzdem kann er unerträgliche Schmerzen bereiten."
Wenn Zweifel an unserem Selbstwert aufkommen, geht es an unsere Substanz.
Wir sind scheinbar machtlos, wenn wir das Gefühl haben unser Selbst, unser Wesen sei minderwertig. Darum tun wir alles dafür das Andere uns wieder Anerkenung und Zuneigung zukommen lassen. Sei es durch besonders freundliches Auftreten und Hilfsbereitschaft, durch besondere Leistungen (zu den Besten gehören), betont selbstbewußtes Verhalten, immer stark sein usw.
Neben den unermüdlichen Bemühungen unseren Selbstwert im Status Quo zu behalten oder zu steigern, lauert unterschwellig die ständige Angst doch nicht zu genügen, den eigenen und äußeren Anforderungen nicht gewachsen zu sein, sprich als Versager dazustehen und sich wieder abgewertet zu fühlen.
B. Düssler meint, dass unser innerer Kritiker die befürchteten Abwertungen in unserem Kopfkino als Tatsache darstellt und wir dadurch uns selber einer permanenten Selbstkritik ausetzen: "Achtung die denken schlecht über dich"; "Mit diesem Fehler hast Du es Dir entgültig versaut", "Noch nicht einmal das kriegst Du hin, wie peinlich".
Kommt zu dem inneren Kopfkino noch äußere Kritik und abwertendes Verhalten aus der Umwelt hinzu kann unser innerer Aufpasser zu noch drastischeren agressiven Mitteln greifen um unseren Selbstwert zu verteidigen:
Drohende Niederlagen sollen dann durch einen harten Gegenangriff abgewehrt werden, "..denn sonst bist du ein erbärmlicher Schwächling oder solange du andere abwerten kannst, bist du mächtiger und mehr wert als sie."
Oder als eine weitere Variante des Mobbings so B. Düssler:
"Wer beliebter ist als du, sollte mit allen Mitteln kleingemacht werden - denn sonst wirst du bald spüren, wie klein und wertlos du im Vergleich zu ihm bist". Die depressive Variante sähe dann etwa so aus: "Du bist eben minderwertig, also sei still und finde dich damit ab."
B. Düssler, aus "Hör auf Dich fertigzumachen", S. 85