Statusspiele in der Schule
Statusspiele in der Schule

Status- und Machtkämpfe in der Schule

R.W.Fuller („Somebodys and Nobodys“, S. 33) der mehrere Jahre Direktor einer Oberschule in den USA war, wunderte sich warum die Schüler alles andere täten als dem Unterricht zu folgen und warum Reformideen und progressive Unterrichtsstile sehr häufig zu einer Enttäuschung seitens der Lehrkräfte führe.

 

Die Wahrheit sei, dass Schüler deshalb nicht mit Herz und Verstand dem Unterricht folgen, weil „der Fisch im Glas“ im „vergifteten“ Wasser schwimmen würde. Nicht genug Gift, nach Ansicht Fullers um den Fisch umzubringen (obwohl auch das traurige Realität ist !), jedoch sein Wachstum und sein Wohlbefinden nachhaltig zu beeinträchtigen. Dieses kräfteraubende Gift ist die reale oder befürchtete Bedrohung durch Statusmissbrauch von Mitschülern und Lehrern d.h. jede erfahrene Form von Beleidigung, Spott, Ignoranz, Ausgrenzung, Erniedrigung usw. Es durchdringe alle Institutionen vom Kindergarten bis zu den weiterführenden Schulen.

 

Das Finden und Halten der eigenen Position in der Hierarchie einer Klasse hätte oberste Priorität – vor allem anderen.

 

Bevor sich Schüler mit dem Unterrichtsstoff beschäftigen könnten, müssten sie quasi erst den Stoff beherrschen, der ihre Position in der Klassenhierarchie bestimmt. Je nachdem, ob die Schüler in der Lage sind ihr „Würde“ („Dignity“) in der Klassenhierarchie zu bewahren, entscheidet darüber, ob sie dem Unterricht folgen können oder nicht.

 

Diese Beobachtung beschreibt auch Karl E. Dambach, langjahriger Berufschullehrer in seinem Buch „Mobbing in der Schulklasse“ (2009, S.27).

 

Es würden „.. unzählige (vom Staat bezahlte) Unterrichtstunden vergeudet, weil die Klasse die ganze Konzentration auf Gruppenprobleme verwendet, dem eigentlichen Inhalt der Stunden wenig Aufmerksamkeit schenkt und sich nur geringfügig dem widmet, worin der Lehrer seine Hauptaufgabe sieht. Deshalb gibt es häufige Wiederholungen des gleichen Stoffes und viel zu viele Schulversager, die das Vorankommen auch der erfolgreichen Mitschüler sehr beeinträchtigen. Wie viele Arbeitstunden, Energie und Nervenkraft von Lehrern könnten eingespart werden, gäbe es weniger von solchen Kämpfen um die Gruppenstruktur.“

 

Die Situation derjenigen, welche auf den unteren Rängen der Klassenhierarchie ständen, sei nach Fuller mit der systematischen Diskriminierung Schwarzer im 19. und 20. Jahrhundert in den USA, vergleichbar.

 

Niedriger Rang trägt ein Stigma – man wird zum „Nobody“ (uninteressant, unwichtig usw.). Der davon Betroffene werde verletzlicher für beleidigende und herabsetzende Attacken von Mitschülern und Lehrern.

 

Michael Thompson und Mitautoren kommen in ihrem Buch "Best Friends, Worst Enemys: Understanding the sozial lives of Children" zu dem Resumee, dass jedes Kind im Leben drei Dinge anstrebe: "mitmenschliche Verbundenheit, Anerkennung und Macht" (zitert nach Rachel Simmons 2003, "Meine beste Feindin", S.19 / siehe auch die Seite Machtkämpfe bei Mädchen und Frauen). Der Wunsch nach Verbundenheit läßt Kinder u.a. Freundschaften schließen, während der Wunsch nach Macht und Anerkennung Konkurenzdenken und Konfliktbereitschaft entstehen ließe.

 

Mobbing als Methode zur Statushebung

Der Begriff Mobbing läßt vermuten das dieses Phänomen eine Ausnahmeerscheinung sei. Dies ist keineswegs der Fall, sondern, im Gegenteil normaler Alltag an deutschen Schulen. Mobbing, so  Mechtild Schäfer, eine der führenden deutschen Mobbingforscherinnen in Deutschland, sei ein Mißbrauch sozialer Macht auf der Basis systematischer und wiederholter Attacken gegen Schwächere.

 

Laut der Pisastudie von 2018 wird jeder sechste Schüler an deutschen Schulen gemobbt 

 

Carsten Stahl, der an ca. 230 Schulen für ca. 60000 Schüler als Mobbingcoach tätig war spricht davon, dass von den Schülern, egal welcher Schulform, ab  der dritten Klasse  (der teilnehmenden Schüler seines Mobbingprogrammes)

 

90% (!) von Mobbing betroffen waren,

 

desweiteren seien 90% auch Täter und Mittäter von Mobbing gewesen;

 

60-70%  schauten weg, weil sie Angst hatten zum Opfer zu werden.

 

Jeden zweiten Tag würde sich ein Kind in Deutschland umbringen.

 

Zudem hätte die Qualität der Brutalität von körperlichen Angriffen "extrem" zugenommen, "aus 6 x Schubsen" sei heute "5 x gegen den Kopf treten geworden".

 

Hinzu käme noch die in seiner Wirkung nicht zu unterschätzende Auswirkung des Cybermobbings. (aus Youtube: Carsten Stahl fordert Heidi Klum & Manuel Neuer heraus – Interview mit Carsten Stahl | Simone Kriebs)

 

Die Motivation,  aus der heraus der Täter beginnt andere Kinder zu schikanieren sei, nach Mechthild Schäfer, das Streben nach Dominanz und Status.

 

Patricia Hawley, amerikanische Professorin für pädagogische Psychologie, "geht davon aus das in jeder Population ungefähr 30% der Individuen nach Macht streben. Das bedeutet, das die Leute, die anfangen andere Kinder zu viktimisieren, zu schikanieren, natürlich meistens die sind, die dieses  Macht- und Dominazstreben in sich tragen...Durch die Existenz eines Opfers - instrumentalisiert zur Machtdemonstration - wird den Tätern Macht und Status zugesprochen..." ( aus dem Interview mit Frau Prof. Mechthild Schäfer und Herrn Manuel Stoiber an der Ludwig-Maximilians-Universität München).

 

Mit manipulativen Fähigkeiten gelänge es Tätern in der Klasse ein Klima zu schaffen in der ein Mitmachen als "normal" und gegen das Opfer als akzeptabel empfunden werde und irgendwie "gerechtfertigt" sei. 

 

Nach M. Schäfer haben Schüler mit hohem Rang gelernt "unterhalb des Radarschirms" zu agieren und so der Aufmerksamkeit der Erwachsenen zu entgehen. Integraler Bestandteil von erfolgreichem Mobbing sei es, das Opfer so ausschauen zu lassen, als sei es irgendwie selber schuld an seiner Lage. Nach M. Schäfer haben Untersuchungen in vielen Ländern übereinstimmend ergeben, dass ein Täter von vielen in der Klasse unterstützt wird.

 

Die Finnin Christina Salvialli und Kollegen hat die Mitschülerrollen im Mobbingprozeß  soziometrisch, mit einem Fragebogen erfaßt. Sie kam zu dem Ergebniss der im internationalen Vergleich auch bestätigt wurde, dass im Mobbingprozeß 9 von 10 Schülern beteiligt seien. 

 

10 % agieren als Täter.

 

10 % als Assistenten der Täter, welche sich auch aktiv am schikanieren der Mobbingopfer beteiligen.

 

10 % sind Verstärker, d.h., jene die mitlachen, spotten, und ein ablehnendes Verhalten zeigen

 

20 - 30 % der Schüler ständen am Rande des Geschehens und täten so als würden sie nichts bemerken - was letztlich die aggressiven Täter in ihrem Verhalten unterstützt und bestätigt.

 

20 - 30 % sind Verteidiger oder Vermittler, trösten das Mobbingopfer und treten für diese auch  verbal ein, zumindest in der Frühphase des Mobbingprozesses. Je länger die Mobbingattacken jedoch andauern, desto mehr sinkt die Bereitschaft dieser Kinder und Jugendlichen für die Mobbingopfer einzutreten - zumal die Gefahr steigt dann selber von Mobbing betroffen zu werden.

 

Mittlerweile ist die Mobbingforschung zu der Erkenntnis gekommen, dass es beim Mobbing nicht um einen Konflikt zwischen Täter und Opfer geht. Mobbing betrifft immer eine Gruppe. Je länger das Mobbing anhält umso mehr Schüler einer Klasse beteiligen sich daran.

 

Die Mobbingforscherinnen Claire Garandeau  und A. Cillesen beschreiben in einer Untersuchung den Übergang von der indirekten zur "unsichtbaren" Aggression:

 

"Die Gruppe ist die Waffe ohne die eine solche Aggression gar nicht auftreten könnte."

 

Wer angegriffen wird entscheidet sehr häufig  allein die Konstellation in der Gruppe.

 

Mechtild Schäfer meint, dass im Gegensatz zum Konflikt, Mobbing ein funktionales Verhalten sei, dessen Ziel es ist soziale Positionen in der Klassengemeinschaft zu stärken und zu erhalten. (M. Schäfer, "Du Opfer", S. 154)

 

Zu erwähnen ist auch die Variante des sogenannten "netten Mobbers".

 

Mechthild Schäfer spricht hier von Bistrategien: "..der kann beides gleich gut: prosozial strategisch agieren, aber auch coersiv (aggressiv, Anm. des Verf.) strategisch agieren.

Deshalb ist es auch für Lehrer mitunter sehr schwer, diese Bistrategen zu identifizieren, weil der nette Mobber immer zum Lehrer und wahrscheinlich auch zu bestimmten anderen Klassenkameraden nett ist, auf jeden Fall zu den Leuten, die ihn sanktionieren könnten.

Und durch sein prosoziales Verhalten signalisiert er diesen Leuten: „Okay, der ist total nett, der ist sozialkompetent, der kann ja gar nicht böse sein, und der kann ja die anderen Kinder gar nicht schikanieren.“ Und deshalb ist es für Lehrer so schwer, diese Kinder zu erkennen und dann entsprechend ihr Verhalten zu sanktionieren.

Von diesen Bistrategen gibt es einige wenige in der Klasse, und wir konnten in unseren Studien zeigen, dass diejenigen Täter, die Mobbing besonders erfolgreich initiieren und aufrechterhalten, genau die Bistrategen sind, also sowohl coersive als auch prosoziale Strategien anwenden (Stoiber und Schäfer 2013).

 

Und wir konnten auch, zwar nur auf Basis unseres Querschnittsdesigns, zeigen, dass es vermutlich vor allem die coersiven Strategien, also die aggressiven Strategien, sind, auf denen die Macht dieser Schüler basiert, aber dass später die prosozialen Strategien dazukommen, um dann diese Macht aufrechtzuerhalten oder diese Macht noch weiter auszubauen." ( aus dem Interview mit Frau Prof. Mechthild Schäferund Herrn Manuel Stoiber an der Ludwig-Maximilians-Universität München).

 

 "Hänseleien. Gerüchte, Ausgrenzung. körperliche Gewalt - wegen vieler Mobbing-Fälle wird Schule in einem neuen Pisa-Report auch als "Ort der Qual" beschrieben", so schreibt der Merkur 2019.

 

Und das trotz der oft "umfangreichen" Mobbingkonzepte und -programme die an den Schulen in den letzten Jahren durchgeführt wurden.

 

Wirksames Vorgehen gegen Mobbing

Beispiel Carsten Stahl

Im Anbetracht der großen Schwierigkeit für viele Schulen ein langfristig wirksames Programm gegen Mobbing auf die Beine zu stellen, hier ein wie mir scheint sehr unkonventionelles aber anscheinend auch sehr effizientes und authentisches Vorgehen:

 

Vor nun schon einiger Zeit erschienen die ersten Folgen von Stahl Hart gegen Mobbing bei RTL II.

Die Sendung überraschte mit einem anscheinend selbsternannten Coach (ehemaliger Krimineller, mit eigener Mobbingerfahrung, sowohl als Täter als auch als Opfer, augenscheinlich ohne pädagogische Ausbildung - jedoch Vater von zwei Kindern die auch gemobbt wurden) der mit seiner Direktheit und seinem erstaunlich emphatischen Vorgehen das Problem Mobbing bei Kindern und Jugendlichen anscheinend sehr effizient in der Schule im persönlichen Kontakt mit den einzelnen davon betroffenen Kindern und Jugendlichen angeht.

 

 Carsten Stahl spricht den Jugendlichen oder das Kind direkt in seinem Schmerz und seinem persönlichen, durch Mobbing verursachten Leid, an.

 

Das Kind, der Jugendliche, welcher sich mit seinem eigenen durch Mobbing verursachten Schmerz und Verletztheit konfrontiert sieht, zeigt sich sichtbar betroffen und beginnt auch häufig daraufhin zu weinen.

 

Die direkte Ansprache und das offen und verbal deutlich ausgesprochene Verständnis und Mitgefühl seitens Stahls erleichtern den vom Mobbing Betroffenen das Ausmaß des ihm zugefügten Leides zu fühlen und auch vor anderen preiszugeben.

 

Gerade diese Erfahrung ist auch für die Mitschüler, für die ganze Klasse sehr wichtig. Sehen diese doch mit eigenen Augen um wie viel Schmerz, Drangsal, erlittene Erniedrigung und Demütigung es hier bei den vom Mobbing betroffenen Schülern wirklich geht.

 

Stahl macht bei dieser Konfrontation dem Mobbingopfer auch sehr eindringlich deutlich, dass ihn keine Schuld am Mobbing trifft und dass es ganz wichtig ist all diese negativen vom Mobber übergestülptem Beschimpfungen, Eigenschaften ( „du Looser“, „du Opfer“, du Versager“ ...) u.s.w. als etwas zu sehen was gar nichts mit ihm zu tun hat!

 

Mobbing zermürbt den Selbstwert, die Selbstachtung der Opfer und die Eindringlichkeit mit der Stahl hier dem vom Mobbing betroffenen Kind deutlich macht, dass das alles gar nichts mit ihm zu tun hat, kann ein Befreiungsschlag aus dem Alptraum Mobbing sein.

 

Folgerichtig verweist Stahl hier dann auch sofort auf den Verursacher des Mobbing zurück, den Täter, und stellt dessen „Schwäche“ heraus. Der Täter sei der eigentlich "Schwache", der sich auf Kosten von anderen zu profilieren, zu entlasten und besser zu stellen versucht. Oder die Täter, wenn man alle am Mobbingvorgang teilnehmenden miteinbezieht, d.h. am Ende möglicherweise ¾ der Schüler (oder mehr) einer Klasse.

 

 Stahl nimmt den Täter (oder die Täter) ins Visier. Stahl spricht den Täter deutlich auf die negativen und destruktiven Auswirkungen seiner Taten an (demütigen, beleidigen, verunglimpfen, ignorieren u.s.w.). Jedoch wird der Täter von Stahl auch als „menschliche“ Person anerkannt.

 

Stahl forscht nach dem verdeckten Schmerz des Täters, nach dessen Unzulänglichkeitsgefühlen – macht deutlich, dass die Ursache in vergangenem ihm von außen zugefügten Schmerz  zu suchen ist - dort wo der Täter selber Opfer war.

 

 Dieses Vorgehen ist für das Verstehen von Mobbing und als wirksames Mittel dagegen sehr wichtig!

 

 Zum einen bedeutet es für die gesamte Klasse den Blick für die wirklichen Zusammenhänge, die sich in der eigenen Klasse abspielen, zu klären und zu schärfen.

 

Zum anderen kann dies für alle Klassenmitglieder eine enorme Entlastung bedeuten.

 

 Werden einer oder mehrere Schüler einer Klasse gemobbt, so bedeutet das natürlich auch für die Mitschüler die ständige unterschwellige Angst auch von Mobbing betroffen zu werden, dieses dann womöglich auch noch irgendwie „verdient zu haben“, sowie den steten Druck es auf gar keinen Fall für einen selbst soweit kommen zu lassen!

Das Finnische Programm KiVa

Mechthild Schäfer hält das Finnische Programm KiVa für das z.Z. beste und umfassendste Programm gegen Mobbing an Schulen, hier der Link zum oben genanten Interview (S.11-12):

 

 https://studlib.de/3652/psychologie/herrn_manuel_stoiber_ludwig-maximilians-universitat_munchen

 

Einkommensungleichheit und Mobbingrate

Eine Studie in 37 Ländern zeigte dass es umso mehr Mobbing in den Schulen gab, je größer die Einkommensungleichheit war. Länder mit brutalen Einkommensungleichheiten, wie Rumänien oder Bulgarien, bringen Kinder hervor, die ihre eigenen Hierarchien ebenfalls brutaler durchsetzen.